Die Schweiz braucht eine Biodiversitätsoffensive
Je nach Zählweise hat die Natur in der Schweiz gerade mal auf sechs bis vierzehn Prozent der Landesfläche Vorrang. Deutlich zu wenig, deshalb braucht es die Biodiversitätsinitiative. Bis jetzt hat die Natur nur auf einer kleinen Fläche der Schweiz Vorrang: Lediglich auf 5,9 Prozent der Landesfläche geniesst die Natur einen rechtlich umfassenden Schutz. Diese Fläche umfasst die nationalen Schutzgebiete mit dem Nationalpark und der Kernzone der Naturerlebnispärke (0,4 %) sowie die Biotope von nationaler Bedeutung (2,2 %). Dazu kommen die kantonalen, regionalen und lokalen Naturschutzgebiete in Umfang von 3,3 Prozent; darunter fallen auch die Waldreservate der Kantone.
Schwächer geschützt sind die Jagdbanngebiete (3,65 % der Landesfläche) sowie die Wasser- und Zugvogelreservate (0,55 %). Werden diese ebenfalls angerechnet, machen die Schutzgebiete rund zehn Prozent der Landesfläche aus.
Das Bundesamt fĂĽr Umwelt (Bafu) geht noch weiter und nennt zwei weitere Kategorien von Schutzgebieten: Einerseits sind dies Schutzgebiete von internationaler Relevanz
(1 %, hier handelt es sich um die Smaragd- und Ramsargebiete). Diese Flächen sind zwar ausgewiesen, haben aber keinen Schutz nach schweizerischem Recht. Andererseits nennt das Bafu auch die landwirtschaftlichen Biodiversitätsflächen mit Qualität 2 (2,7 %). Letztere können eigentlich nicht als Schutzflächen gelten, denn sie sind nicht langfristig gesichert.
Europäisches Schlusslicht
Selbst wenn diese eigentlich nicht anrechenbaren Gebiete in die Gesamtrechnung einfliessen, machen alle Schutzgebiete der Schweiz, welche die Biodiversität fördern sollen, nicht einmal 14 Prozent der Landesfläche aus. Damit gehört die Schweiz im europäischen Vergleich zu den Ländern mit dem tiefsten FlächenÂanteil.
Die Biodiversitätsinitiative verlangt deshalb, dass die Schweiz die erforderlichen Flächen zum Erhalt der Biodiversität sichert. Sie nennt kein konkretes Flächenziel. Dies aus zwei Gründen:
- Die Bundesverfassung, die bei einer Annahme der IniÂtiative entsprechend abgeändert wĂĽrde, legt langfristige und ĂĽbergeordnete Ziele der Eidgenossenschaft fest. FĂĽr detaillierte Vorgaben gibt es Gesetze und Verordnungen. Ein Flächenziel wäre in der Verfassung also am falschen Ort.
- Zweitens fehlt noch die aktuelle wissenschaftliche Grundlage, wie viel Fläche denn für die Sicherung der Biodiversität erforderlich ist. Diese Grundlagen erarbeitet zurzeit die Organisation Infospecies im Auftrag des Bafu.
Experten fordern: «30 by 30»
Laut einer Studie der Schweizerischen Akademie der NaturÂwissenschaften aus dem Jahr 2013 sollte die Erhaltung und Förderung der Biodiversität auf rund einem Drittel der LandesÂfläche Vorrang haben. Gut 30 Prozent also – so viel wird aktuell auch international gefordert: Im Rahmen der Verhandlungen rund um die Biodiversitätskonvention und des neuen globalen ZielÂrahmens fĂĽr die biologische Vielfalt haben sich 60 Länder von sechs Kontinenten – darunter auch die Schweiz – zur «High Ambition Coalition for Nature and People» (HAC) zusammengeschlossen. Sie wollen 30 Prozent der Landesfläche und der Ozeane bis 2030 schĂĽtzen («30 by 30»). Die HAC wurde von den Staatspräsidenten Frankreichs und Costa Ricas ins Leben gerufen.
KĂĽrzlich hat der Bundesrat offiziell das VerhandlungsÂmandat der Schweizer Delegation fĂĽr die Biodiversitätskonferenz verabschiedet. Die Schweizer Delegation will sich fĂĽr ambitionierte, messbare und prägnante Ziele einsetzen – so auch «30 by 30». Dazu braucht es gemäss Aussagen des Bundesrates nebst der Bestimmung von Schutzgebieten zusätzliche Massnahmen: die Revitalisierung von FlĂĽssen, die Erhaltung und Förderung von wertvollen Gebieten fĂĽr die Biodiversität sowie die Erhaltung und Schaffung von Gebieten, die der Vernetzung der LebensÂräume von Wildtieren dienen. Also genau das, was die Biodiversitätsinitiative verlangt.
Gegenvorschlag mit ungenĂĽgenden Zielen
Vor diesem Hintergrund wirkt es unverständlich, warum der Bundesrat im Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative gerade mal 17 Prozent der Landesfläche fĂĽr die Biodiversität sichern will – ein Ziel, zu dessen Umsetzung sich die Schweiz im Rahmen der Biodiversitätskonvention ohnehin bis 2020 verpflichtet hat. Ein altes, noch dazu verfehltes Ziel soll also fĂĽr Jahrzehnte hinaus in unserem Natur- und Heimatschutzgesetz verankert werden. So sieht keine kohärente BiodiversitätsÂpolitik aus.
Die Vernehmlassung des indirekten Gegenvorschlags zur Biodiversitätsinitiative ging am 9. Juli zu Ende. Auch der TrägerÂverein, bestehend aus Pro Natura, BirdLife Schweiz, dem Schweizer Heimatschutz, der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz sowie weiteren Organisationen, hat sich in einer Stellungnahme dazu geäussert. Bis im FrĂĽhling 2022 hat der Bundesrat Zeit, die Stellungnahmen zu sichten und zu analysieren. Dann muss der Bundesrat den ĂĽberarbeiteten indirekten Gegenvorschlag inklusive Botschaft dem Parlament ĂĽberweisen. Die darauffolgenden parlamentarischen Debatten werden zeigen, in welche Richtung sich der Gegenvorschlag entwickelt. Erst nach dieser Phase kann eine Einschätzung erfolgen, ob ein RĂĽckzug der Biodiversitätsinitiative in Frage kommt oder ob es eine Volksabstimmung braucht.